Azimut Futur #20#0007: Corona
Ich weiß nicht, wie oft, aber ich hatte in den letzten zwei Wochen mehrfach versucht, diesen Text hier zu schreiben. Aber immer wieder bin ich daran gescheitert, habe das Text-Dokument wieder geschlossen, weil ich nicht wusste, was ich schreiben soll. Denn: Klar, es müsste etwas zum Coronavirus sein und den Herausforderungen, die es für uns als Einzelpersonenen, Gesellschaft und Menschheit bedeutet. Aber was hätte schreiben sollen? Analysen, Kolumnen und Polemiken dazu, wie gigantisch diese Pandemie ausfällt, wie viele Menschenleben sie unnötig fordert, wie es Lücken und Versäumnisse von Regierungen aufzeigt, die gibt es schon – und das zu Hauff. Ebenso wie große Warnungen davor, das Coronavirus nicht unterschätzen oder in der gegenwärtigen Situation nicht auf bizarre Verschwörungstheorien und rechte Hetzer (oder Vegan-Köche) hereinzufallen.
Natürlich hätte ich Parallelen zur Science Fiction und Popkultur ziehen können. Denn sie sind zweifelsohne da und sichtbar. Nicht umsonst ist der unterkühlte und erschreckend realistische Pandemiefilm Contagion von Steven Soderbergh auf Streaming-Portalen quasi über Nacht zum Hit geworden. Natürlich lässt sich in der Arbeit der Wissenschaftler weltweit das deduktive Genie aber auch das allzu menschliche Trial & Error erkennen, das Michael Crichton in seinem Kultroman Andromeda auf den Mirkokosmos einer fünfköpfigen Expertengruppe in einem hermetisch abgeschlossenen Geheimlabor heruntergebrochen hat.
Ebenso zeigt sich die menschliche Irrationalität, das Ignorieren und Verdrängen der Bedrohung im Angesicht der Gefahr, das Ling Ma so bitterböse in ihrer Zombie- und Weltuntergangssatire Severance skizziert. Und sicher, Polizei-Drohen, die Menschengruppen aufspüren, Desinfektions-Roboter, , … die Sirenen aus der The-Purge-Filmreihe, die zum Start einer Ausgangssperre plärrten, das ist schon düsterster Cyberpunk.
Was will ich damit nun sagen? Nun, eigentlich, dass ich nicht viel zu sagen habe. Ich habe keine Angst, ich habe keine Panik, aber ich mache mir dennoch Sorgen – weniger um mich aber durchaus um meine Mitmenschen. Ich weiß nicht, wie man mit einer Pandemie umgehen soll. Woher auch? Ich habe keine gute Ratschläge oder Handlungsanweisungen außer: Hört auf die Experten! Hört auf die Regierung! Verhaltet euch nicht wie (Cov)Idioten! Das ist es schon.
Was ich mit Sicherheit sagen kann: Die Menschheit wird nicht am Coronavirus zu Grunde gehen oder zerbrechen. Sicher, es wird nicht einfach werden. Wir werden um viele Menschen trauern müssen, zurückblicken und Fehler erkennen, die wir gemacht haben. Vielen wir erst im Nachgang die Dimension bewusst werden. Die Aufarbeitung der Pandemie wird Jahre brauchen. Und hoffentlich werden wir daraus lernen. Nicht nur dafür, wie wir zukünftig mit Pandemien umgehen, sondern auch anderen Bedrohungen, die ebenso real aber für viele nicht so sichtbar und greifbar sind. Sei es der Klimawandel, rechter Hass oder die soziale Schieflage dieser Welt.
Danke für alles!
Michael
Lesetipps
The Drowned World
Der Roman von J. G. Ballard passt irgendwie sehr gut in diese Zeit. 125 Jahre in der Zukunft hat die Erde ihren Tribut gefordert. Der Klimawandel hat das Antlitz des Planeten verändert, Städte stehen unter Wasser, die Evolution hat sich beschleunigt. Robert Kerans arbeitet als Biologe, der mit einem kleinen Team ausgeschickt wird, um diese Veränderungen in der Natur zu protokollieren – nämlich in der Lagune, die einst London gewesen war. Aus dem eigentlich simplen Einsatz wird bald eine surreale Erfahrung. Merkwürdige Träume plagen die Forscher, einer von ihnen flieht aus dem Camp und ist nicht mehr zu finden. Wäre The Drowned World nicht schon vor fast 60 Jahren geschrieben worden, würde es mit seiner Entrücktheit und oft nur andeutenden Erzählweise heute wohl als Beispiel des New Weird gezählt werden. Denn vieles erinnert an Romane wie Auslöschung oder House of Leaves.
Eden
Der erst vor einem Monat erschiene Roman Eden von Tim Lebbon (eine deutsche Übersetzung kann vorbestellt werden) wirkt wie ein Cousin von The Drowned World. Nachdem der Klimawandel unübersehbar wird, entschließt sich die Menschheit Virgin Zones rund um die Erde zu etablieren: Das sind riesige Reservate, in denen die Natur wieder ihren Lauf nehmen kann. Sie sind streng abgeriegelt, keiner darf sie betreten. Aber Dylan und seine Tochter Jenn tun es trotzdem. Sie brechen in die Zone Eden ein, in der Jenns Mutter einst verschwand – und entdecken dabei, dass die Natur sich innerhalb der Zone nicht nur erholt, sondern auch auf teils wunderbare, teils erschreckende Weise weiterentwickelt hat. Das ist spannend geschrieben, erfrischend kurzweilig und herrlich unprätentiös.
That We May Live
Chinesische Science Fiction ist dank Liu Cixin nun auch im Westen angekommen – aber hat deutlich mehr zu bieten als die Trisolaris-Trilogie. Das zeigt That We May Live recht gut, ein Kurzgeschichtenband, der Beiträge von Autoren wie Enoch Tam, Chan Chi Wa und Zhu Hui umfasst. Es sind Erzählungen, in denen eine Stadt ihren Bürgern Wohnungen in riesigen Pilzen anbietet; in denen ein Dorf süchtig nach einem bizarren Gebräu wird und ein Mann herausfindet, dass er sich gut durch das Leben tricksen kann, in dem er vorgibt, jemand zu sein, den andere erwarten. Es sind zum Teil sehr surreale, abstrakte und fast schon metaphysische Geschichten, die teils etwas holprig übersetzt sind aber dennoch eine eigenartige und eindringliche Wirkung entfalten.
Schautipps
Into The Night
Was, wenn … die Sonne plötzlich tödlich wird, wenn eine polare Umkehr stattfindet und ihr Schein Gammastrahlen mit sich bringt? Genau das passiert in der neuen Netflix-Serie Into The Night. Ein dünn besetzter Flug aus Brüssel wird von einem Soldaten entführt, der den zunächst ungläubigen Piloten zwingt, immer nach Westen zu fliegen. Allmählich wird sicht- und spürbar, dass der Soldat kein irrer Spinner ist. Denn nach und nach wird die Welt immer leiser. Die belgische Produktion basiert sehr, sehr lose auf einer Idee aus dem polnischen Sci-Fi-Werk The Old Axolotl von Jacek Dukaj. Es ist keine Bomast-Serie, sondern gleicht eher einem Kammerspiel, das mit jeder Folge andere Passagiere in den Fokus nimmt. Das funktioniert mal besser, mal schlechter, aber ist alles in allem ziemlich sehenswert.
Into The Night ist auf Netflix verfügbar.
Dispatches from Elsewhere
Das Leben von Peter ist dröge, monoton und ohne Abwechslung. Jedenfalls bis er auf der Straße angerempelt wird und sein Blick auf einen bizarren Flyer fällt, der an eine Laterne geklebt ist. Und dann noch so einen Flyer – und wieder einen. Es ist der Beginn einer Schnitzeljagd, die sein Leben aus dem Tritt bringt und ihn in eine surreale Parallelwelt zieht. Denn abrupt findet er sich in einem Spiel wieder, das seine Teilnehmer mit- und gegeneinander stellt. Die Serie Dispatches from Elsewhere beruht zum Teil auf wahren Begebenheiten – nämlich dem Alternate Reality Game um das Jejune Institute, das einst in und um San Francisco abgehalten wurde. Der Schauspieler und Drehbuchautor Jason Segel nutzt die Serie jedoch sehr offen und anrührend auch für eine Selbstdiagnose und Aufarbeitung eines Tiefs in seinem Leben, das sich nach dem Ende von How I Met Your Mother auftat.
Dispatches from Elsewhere ist auf Amazon Prime Video verfügbar.
Hörtipps
Ein Satz für die Zeit danach
Das Ende ist da! Die Menschheit wird verschwinden. Wohl keiner von uns wird übrig bleiben. Die Frage nach dem „Was dagegen tun?“ hat sich erledigt. Aber was, wenn die Möglichkeit besteht, zumindest einen Teil unseres Wissens für jene Zivilisation zu bewahren, die nach dem Ende kommen könnte – einen Satz, einen Bruchteil unserer Erkenntnisse? Wie könnte dieser Satz lauten? Diese Frage stellte 1961 der Physiker Richard Feynman. Der Podcast Radio Lab gab die Frage an heutige Autoren, Wissenschaftler und Denker weiter, die stets eine ganze eigene Antwort darauf hatten.
If in a certain cataclysm, where all of the scientific knowledge is to be destroyed, but only sentence is to be passed down to the next generations of creatures, what would be the best thing? The thing that contains the most information in the least number of words?
Der Podcast ist hier verfügbar.
News und Artikel
Facebook gibt BlenderBot frei
Ich bin kein allzu großer Freund von Chatbots. Denn wo ich ihnen bisher begegnet bin, meistens waren sie überflüssig und keine große Freude. Das hängt aber auch damit zusammen, dass sie oft auch einfach nicht helfen oder eine echte Konversation eingehen können. Daher hatten mich die Meldungen zum Google-Chatbot Meena fasziniert, der angeblich eine echt menschliche Unterhaltung führen könnte. Mit BlenderBot will Facebook nun einen noch überzeugenderen Chatbot entwickelt haben. Faszinierend daran: Er wurde als open source freigegeben. Heißt: Bald dürften wir erste Implementierungen sehen!
KIs sollen lernen wie ein Kleinkind
Forscher der Carnegie Mellon University wollen eine neue Methode nutzen, um künstliche neuronale Netze effektiver und besser lernen zu lassen. Statt beispielsweise bei der Objekterkennung direkt auf hochspezifische Klassifizierungen zu setzen, sollen Künstliche Intelligenzen zunächst breitere und damit einfachere Kategorien erleben. Damit sollen sie ähnlich lernen wie ein Kleinkind.
They start with much broader labels: any species of dog is at first simply “a dog.” Only after the child has learned how to distinguish these simpler categories does the parent break each one down into more specifics.
Ein schwarzes Loch vor unserer Haustür?
Ob man 1.000 Lichtjahre unbedingt als „vor unserer Haustür“ bezeichnen kann, darüber kann man streiten. Aber tatsächlich liegt ein schwarzes Loch mit dieser Entfernung in erschreckender Nähe. The Atlantic hat sich das mal genauer angeschaut.
At just 1,000 light-years away, the black hole is closer to our solar system than any other that astronomers have found to date. A thousand light-years might sound distant to us, but in cosmic proportions, it’s very close.
Ein Chip im Kopf gab einem Mann die Kontrolle über seinen Arm zurück
Er konnte seinen Arm weder fühlen noch bewegen. Aber dank einem Chip im Kopf ist es Ian Burkhart jetzt sogar wieder möglich, Guitar Hero zu spielen. Wie das möglich ist, das berichtet WIRED.
Burkhart’s brain-computer interface, or BCI, was surgically implanted at Ohio State University’s Wexner Medical Center in 2014. Not much larger than a grain of rice, the chip monitors electrical signals from Burkhart’s primary motor cortex, the region of the brain responsible for voluntary movement.
Wie das KI-Start-up eines Nazis Millionen-Aufträge vom Staat kassierte
Ein Unternehmen eines Ku-Klux-Klan- Sympathisanten, der bei einem Angriff auf eine Synagoge geholfen hat, wird mit ertragreichen Staatsaufträgen betraut und erhält Zugriff auf sensible Daten: Klingt unmöglich? Genau das ist aber in den USA passiert – und erst durch eine Reihe von Artikeln von OneZero öffentlich geworden. Tatsächlich ist die Geschichte des mit Millionen-Investments ausgestatteten Start-ups Banjo, das mittels KI „Ereignisse analysieren will, während sie passieren“, äußerst verstörend – selbst, wenn mittlerweile alle Beziehung von Behörden zum Unternehmen gekappt wurden.
Artemis Accords
Die NASA will 2024 zum Mond zurück – um diesmal dort zu bleiben. Das ist das Ziel des Artemis-Programms. Allerdings schafft das auch viel Konfliktpotential. Mit den Artemis Accords hat die NASA daher nun Übereinkünfte mit „internationalen Partnern“ geschlossen. Die besagen kurz und knapp: alle Aktivitäten sollen friedlich sein, transparent ablaufen; genutzte Geräte sollen kompatibel und Standards offen sein; historische Orte (wie die der ersten Mondlandung) sollen geschützt werden; kommt jemand in Not, muss Hilfe geleistet werden; wissenschaftliche Daten werden offengelegt und zur Nutzung freigegeben; der Abbau von Rohstoffen kann und soll geschehen
International space agencies that join NASA in the Artemis program will do so by executing bilateral Artemis Accords agreements, which will describe a shared vision for principles, grounded in the Outer Space Treaty of 1967, to create a safe and transparent environment which facilitates exploration, science, and commercial activities for all of humanity to enjoy.
Essbare Städte? Gute Idee!
Mein großartiger Chef Wolgang hat bei 1E9 mal aufgeschrieben, wie wir die Produktion von Nahrungsmitteln wieder in die Städte holen könnten – und warum das überhaupt gut wäre. Er hat sich dafür unter anderem mit Urban-Farming-Bewegungen, Vertical Farming und Start-ups wie Metro Farm und Iron Ox befasst.
Die Stadt der Zukunft soll essbar sein – und zur Anbaufläche für Salat, Obst und Gemüse werden. Das fordern nicht nur Umweltschützer, sondern auch die EU-Kommission, Start-ups oder FDP-Politiker. Die Angst vor Versorgungsengpässen wird durch die Corona-Krise noch verstärkt. Aber wie kann Landwirtschaft in Städte funktionieren? Welche Rolle kann Technologie dabei spielen? Und könnte der Ertrag reichen, um ganze Metropolen zu ernähren?
So könnten Deepfakes die Film- und Fernsehwelt verändern
Seit mehreren Monaten beschäftige ich mich nun recht intensiv mit Deepfakes. Ich habe selbst einige erstellt und geteilt – und nun auch mal darüber gegrübelt, wie Deepfakes die Medienlandschaft verändern könnten. Denn schon jetzt arbeiten erste Start-ups und Studios daran, die Technik zu kommerzialisieren. Langfristig könnten Deepfakes (und was aus ihnen wird) jeden in jeden Film hineinversetzen und Schauspieler unsterblich machen.
In nur wenigen Jahren sind Deepfakes von der Internetkuriosität zu echten Werkzeugen für Künstler und Medienmacher geworden. Vor allem YouTuber zeigen immer wieder, was damit schon geht. Tatsächlich hat die Technologie das Zeug dazu, Film und Fernsehen zu revolutionieren und Schauspieler unsterblich zu machen.
Worte zum Schluss
In dieser Zeit habe ich nicht viel zu sagen. Abgesehen davon: Schaut bei 1E9 vorbei, hört in den Quarantäne-Cast von Christian Schiffer rein und bleibt gesund.