Azimut Futur #02-2024: Metaverse
Es war eine interessante Zeit, als wir alle vom Metaverse redeten. Oder zumindest die gesamte Tech- und Medienszene, wie man auf Google Trends nachvollziehen kann. Auch mich hatte das Metaverse als Hype-Thema voll erwischt. Ich schrieb und sprach über die Ursprünge des Begriffs, über seine eigentlich dystopische Natur, über die vielen Projekte, die es gab und gibt, um das Metaverse Wirklichkeit werden zu lassen. Und natürlich darüber, wie Mark Zuckerberg von der ganzen Metaverse-Idee so von den Socken war, dass er Facebook gleich in Meta umbenannte. Etwas, das immer noch für Kopfschütteln sorgt. Meta, ... dieses seltsame Video, das bei der Enthüllung gezeigt wurde, es war wirklich total weird.
Was in der Rückschau gerne vergessen wird, ist, warum der Metaverse-Hype ein solches Phänomen war. Wir waren mitten in der Corona-Pandemie. Als das Metaverse 2020 seinen ersten richtigen medialen Schub erlebte, kauften wir uns alle Masken, saßen freiwillig und dann durch Lockdowns gezwungen zu Hause und backten Sauerteigbrot – oder kochten Chili, das machte ich jedenfalls. Wir sahen Videos von fast menschenleeren Städten. Nur wenige Monate später berichteten die Medien von Hunderten Millionen Covid-Infizierten und den vielen Toten.
Viele fühlten sich eingesperrt ... wollten ausbrechen. Da kam das Metaverse als Idee gerade recht. Es beflügelte eskapistische Fantasien. Wenn man schon nicht raus konnte, so könnte man wenigstens digital fliehen, in andere Welten reisen und dort als Avatar mit Freunden und Fremden interagieren, von denen man sich im Moment fernhalten musste. Eben wie im Spielberg-Film Ready Player One, der erst 2018 in den Kinos gelaufen war und die Idee des Metaverse optisch greifbar machte.
Natürlich war das nicht alles. Mit dem Beginn der Corona-Pandemie schien die Technologie die absichtlich missverstandene Vision von Neal Stephensons Snow Crash eingeholt zu haben. Mit den heutigen Engines sind riesige, zusammenhängende Welten möglich. Studios wie Improbable demonstrierten Server-Technologien, die es Tausenden von Spielern ermöglichen, in einer geteilten Welt zu agieren. Und dann war da noch das Web3 mit seinen Kryptowährungen und NFTs, die eine dezentrale und schwer manipulierbare Wirtschaft mit Währungen, Landbesitz und Gütern ermöglichen würden.
Aber, ja ... es war wohl vor allem die Pandemie, die den Hype befeuert hat. Davon bin ich heute überzeugt. Kein Wunder also, dass der Hype mit dem Ende von Corona, der Wiedereröffnung des sozialen Lebens, gestorben ist, oder? Nun, nicht wirklich. Die überschwängliche Begeisterung ist vielleicht verflogen. Aber sie hat auch gezeigt, dass ein grundsätzliches Interesse an solchen digitalen Welten da ist. Dass es ein Bedürfnis danach gibt, aber dass diese Welten doch noch nicht ganz so weit sind.
Ich habe viele Stunden in Metaverse-Projekten verbracht. In einigen, wie Decentraland, die als leblos oder teilweise sogar gescheitert gelten. Und anderen, die sich anfänglich nicht oder nur zögerlich unter das Metaverse-Banner getraut haben. Wie etwa Roblox, Fortnite und Second Life, die als Erfolge oder Vorboten des Metaverse gelten. Und ich habe mich mit vielen Usern oder Spielern dort unterhalten und gechattet. Ich habe immer wieder dasselbe gehört, wenn auch immer etwas anders.
In Decentraland, so wurde mir gesagt, sei einfach zu wenig los. Es gäbe viele schöne Landschaften, aber wenig zu tun und zu erleben. Der Grund? Es sei zu schwierig bis unmöglich, etwas Eigenes zu erschaffen und aufzubauen. Wenn man zum Beispiel ein Stück Land hat, muss man jemanden anheuern, der etwas daraufsetzt. Vor allem, wenn dieses Etwas nicht nur ein toter Präsentationsraum sein soll, wie ihn Kryptobörsen wie Kraken haben. Also etwas Interaktives. In Roblox und Fortnite geht so etwas einfacher. In diesen Spielumgebungen kann man sogar eigene Spiele entwickeln. Wirklich beeindruckende sogar, die sich komplett vom look & feels der Basiswelt abheben. Aber es existiert dennoch eine steile Lernkurve, so dass sogar Sommercamps existieren, in denen Kids lernen können, in Roblox zu entwickeln.
Die Lernkurve wird jedoch immer flacher. Und ich glaube, dass sie bald so flach sein wird, dass nahezu jeder, der zumindest etwas Muse und Mühe aufbringt, in diesen Welten etwas bauen und gestalten kann – und das Metaverse dadurch eine Rennecaissance erleben wird. Auch, vielleicht sogar vor allem dank Künstlicher Intelligenz.
Seit dem Start von ChatGPT sind die Fortschritte im Bereich der sogenannten generativen Künstlichen Intelligenz immens. Die Geschwindigkeit, mit der Sprachmodelle entwickelt werden, ist beeindruckend. Gleiches gilt für Text-zu-Bild-Generatoren wie Midjourney, Stable Diffusion und DALL-E. KI-Generatoren für dreidimensionale Objekte finden noch wenig Beachtung. Denn die Ergebnisse sind noch solala, verbessern sich aber rasch, wie Dienste wie Meshy, Luma AI und Alpha3D sowie verschiedene Open-Source-Ansätze zeigen. Das Gleiche gilt für KI-Systeme, die Animationen einfach aus einer Videoaufnahme extrahieren oder aus dem Nichts generieren können.
Wenn das alles in naher Zukunft zusammenkommt und seinen Weg in die Editoren der Metaverse-Projekte findet, könnte das – die ethischen Fragen mal beiseitegelassen – ein kreatives Feuerwerk entzünden. Nutzer ohne große Programmier-, 3D-Modellierungs- und Animationskenntnisse, dafür aber mit umso mehr Lust, Laune und Zeit, könnten mit KI-Tools eigene 3D-Figuren und Szenerien erstellen und diese mit generierten Texturen und Animationen versehen. Ebenso könnten sie den Code generieren lassen, um Skripte und Regeln für ihre interaktiven Erlebnisse festzulegen.
Die kargen Kulissen von Decentraland könnten plötzlich mit Spielen durchzogen werden, in denen die Besucher gegeneinander antreten können. Die statischen Gebäude könnten zu einer echten Erkundung einladen, weil sich in ihnen nun interaktive Funktionen einbauen und verstecken lassen. Das Ur-Metaverse – ja, wirklich, es lebt noch, und zwar sehr – Second Life könnte seinen Nutzern durch KI-Tools mehr Freiheit geben, Experimentierfreude wecken und diejenigen, die bisher nur konsumiert und zugeschaut haben, einladen, selbst zum creator zu werden. Gleiches gilt für Roblox und Fortnite, deren Toolboxen zwar schon sehr gut funktionieren, aber mit ihrer Tabula-Rasa-Oberfläche und all den Einstellungen und Schaltern nicht wenige abschrecken und entmutigen, bevor sie überhaupt richtig anfangen.
Ein ChatGPT-ähnlicher Assistent, bei dem ein Sprachmodell den Benutzer durch den Erstellungsprozess führt und ihm hilft, Ideen zu entwickeln und umzusetzen, könnte einen echten Umbruch darstellen. Und wird es wahrscheinlich auch. Denn viele Entwickler beobachten genau, wie und was gerade rund um die KI-gesteuerte 3D- und Spieleentwicklung passiert. Sie testen, ob und wie sich das in ihre eigenen Welten integrieren lässt. Selbst wenn es gerne geraunt wird: Meta hat das Metaverse nicht abgeschrieben, um sich auf Künstliche Intelligenz zu konzentrieren, sondern arbeitet an beidem weiter – wohl um beides in Zukunft zusammenzubringen.
Und Disney? Das hat im vergangenen Jahr sein Metaverse-Team mehr oder weniger aufgelöst, um sich ebenfalls auf Künstliche Intelligenz zu konzentrieren. Doch der Unterhaltungsriese hat nun angekündigt, 1,5 Milliarden Dollar in den Fortnite-Entwickler Epic Games zu investieren, um „ein völlig neues Spiel- und Unterhaltungsuniversum“ aus miteinander verbundenen Markenwelten zu schaffen, die mit Fortnite interoperabel sein sollen, dessen 3D-Welt bereits für Konzerte und Filmabende genutzt wurde. „Play Watch Create Shop“ lautet der Claim am Ende des Ankündigungsvideos.
Ich bin mir also ziemlich sicher, dass das Metaverse keineswegs tot und begraben ist. Es wird wieder auferstehen – angetrieben von der Kraft der Künstlichen Intelligenz und Milliarden von Dollar.
Links & Lesetipps
How to keep your art out of AI generators | Passend zum obigen Text. Nicht alle Künstler sind damit einverstanden, dass ihre Bilder zum Training von KI-Modellen verwendet werden. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie sich Künstler dagegen wehren können.
Wie KI-generierte Bilder zur Desinformation genutzt werden | Der Titel meines Artikels sagt‘s bereits. Ich habe mich mit KI-Fake-Bildern beschäftigt.
Japan in the 90s | Seit einigen Wochen gibt es Midjourney in der Version 6, die geradezu absurd realistische Bilder erzeugt. Wären da nicht die kleinen Fehler und Auffälligkeiten.
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PS. Ja, wir haben uns lange nicht gesehen. Der letzte Azimut-Futur-Newsletter ist fast vier Jahre her. Da dachte ich, es wird mal wieder Zeit.
Und ich hoffe, dass ich die Zeit finde, ihn - parallel zu meinem Non-Tech-Newsletter Kurator42 - wieder öfter, wenn auch unregelmäßig zu schreiben. Also falls ihr das wollt!
Wer generell mehr von mir lesen möchte, findet Texte von mir jederzeit auf 1E9.